Karl Kraus Zitate
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Wenn Tiere gähnen, haben sie ein menschliches Gesicht.
Die wahre Metaphysik beruht in dem Glauben, daß einmal Ruhe wird. Der Gedanke an eine Auferstehung der Fleischer widersteht ihr.
Nahrung ist eindrucksfähiger als Bildung, ein Magen bildsamer als ein Kopf.
Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend.
Die Zeiten starben am Fett oder an der Auszehrung. Die hier will den Tod durch eine überernährte Armut foppen.
Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkel der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.
Der Ausdruck sitze dem Gedanken nicht wie angenommen, sondern wie angegossen.
Viele die am 1. August 1914 begeistert waren und Butter hatten, haben gehofft, dass am 1. August 1917 noch mehr Butter sein werde. An die Begeisterung können sie sich noch erinnern.
Man verachte die Leute, die keine Zeit haben. Man beklage die Menschen. Aber die Männer, die keine Zeit zur Arbeit haben, die beneide man!
Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.
Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagten, weil sie schreiben.
Sonderbare Gäste Daß mancher Fant bei mir gesessen, Sollte mir hinterdrein übel bekommen. Er hat die Weisheit mit dem Löffel gegessen, Den er von meinem Tische genommen.
Es besteht der Verdacht, daß die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die Schauspielerei von Mängeln, die Musik von Nebengeräuschen.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacht. Schon möglich, daß mich die nicht erkennen, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen.
In der Erotik gilt die Rangordnung: Der Täter. Der Zeuge. Der Wisser.
Ich lasse mich durch keinen Vollbart mehr täuschen. Ich weiß schon, welches Geschlecht hier im Haus die Hosen anhat.
Eine Gesellschaftsform, die durch Zwang zur Freiheit leitet, mag auf halbem Wege stecken bleiben. Die andere, die durch Freiheit zur Willkür führt, ist immer am Ziel.
Die geniale Fähigkeit des Weibes, zu vergessen, ist etwas anderes als das Talent der Dame, sich nicht erinnern zu können.
Gäbe es keine Politik, so hätte der Bürger bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn ausfüllen könnte.
Der Journalismus hat die Welt mit Talent verpestet, der Historizismus ohne dieses.
Der Scharfsinn der Polizei ist die Gabe, alle Menschen eines Diebstahls für fähig zu halten, und das Glück, daß sich die Unschuld mancher nicht erweisen läßt.
Es geht weiter. Das ist das einzige, was weiter geht.
Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner, aber er kommt nicht wieder hinauf. Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.
Fürs Kind. Man spielt auch Mann und Weib fürs Kind. Das ist noch immer der wohltätige Zweck, zu dessen Gunsten die Unterhaltung stattfindet und vor dem selbst die Zensur ein Auge zudrückt.
Der Journalist denkt ohne die Lust des Denkens. In dessen Bezirk verbannt, gleicht der Künstler einer zur Prostitution gezwungenen Hetäre. Nur daß diese schadlos auch dem Zwang erliegt. Der Zwang zur Lust kann ihr Lust bedeuten, jenem nur Unlust.
Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz.
Hinter dem Pedanten steht zuweilen ein Phantast, der Stützpunkte sucht, um es so recht sein zu können.
Was zu gunsten des Staates begonnen wird, geht oft zu Ungunsten der Welt aus.
Die Welt wird sich einmal wundern, dass sie kein Geld mehr hat. So geht’s jedem, der es verpulvert.
Wenn Lieben nur zum Zeugen dient, dient Lernen nur zum Lehren. Das ist die zweifache teleologische Rechtfertigung für das Dasein der Professoren.
Die Satire ist fern von aller Feindseligkeit und bedeutet Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt.
In der Liebe kommt es nur darauf an, daß man nicht dümmer erscheint, als man gemacht wird.
Ich habe mich mein Lebtag geschämt, ein Österreicher zu sein, und nie mich dieser Scham geschämt, wissend, daß sie der bessere Patriotismus sei.
Die wahren Schauspieler lassen sich vom Autor bloß das Stichwort bringen, nicht die Rede. Ihnen ist das Theaterstück keine Dichtung, sondern ein Spielraum.
Den Vorzug der Frau, immer erhören zu können, hat ihr die Natur durch den Nachteil des Mannes verrammelt.
Der „starre Buchstabe des Gesetzes“? Das Leben selbst ist zum Buchstaben erstarrt, und was bedeutet neben solchem Zustand die Leichenstarre der Gesetzlichkeit!
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, kann mir nichts geschehen. Das sollte sich das Schicksal merken.
Einen Aphorismus kann man in keine Schreibmaschine diktieren. Es würde zu lange dauern.
Der deutsche Hochgedanke hat dank der Normalwäsche den Weg durch Einheit zur Unreinheit genommen.
Für einen Mann zählt das Erreichte. Einer Frau reicht das Erzählte.
Ein Buch kann darüber täuschen, ob es die Weltanschauung des Autors bietet oder eine, die er bloß vertritt. Ein Aphorismus ist die Probe, ob man eine hat.
Gott nahm vom Weib die Rippe, baute aus ihr den Mann, blies ihm den lebendigen Odem aus und machte aus ihm einen Erdenkloß.
In Berlin geht man auf Papiermaché, in Wien beißt man auf Granit.
Wer sehr alt werden will, muß beizeiten damit anfangen.
Müssen wir für die Mängel büßen, die der Schöpfer an den Weibern gelassen hat? Weil sie in jedem Monat an ihre Unvollkommenheit gemahnt werden, müssen wir verbluten!
Worüber ich nicht wegkomme: Daß eine ganze Zeile von einem halben Menschen geschrieben sein könne. Dass auf dem Flugsand eines Charakters ein Werk erbaut wäre.
Der Bibliophile hat annähernd dieselben Beziehungen zur Literatur wie der Briefmarkensammler zur Geographie.
Der neue Dirigent soll bereits so effektive Proben seiner Tatkraft abgelegt haben, dass schon fleißig gegen ihn intrigiert wird.
Sie behandeln eine Frau wie einen Labetrunk. Daß die Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen.