Karl Kraus Zitate
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„Zeitraum“: das ist ein Quodlibet der Ewigkeit. Man versuche einmal, sich ohne Kopfschmerzen die Raumzeit vorzustellen.
In Berlin hat einer einen geschwollenen Hals. Das kommt vom vielen Silbenschlucken. Aber der Kopf geht bei solcher Tätigkeit leer aus.
Den Mangel, daß das Genie einer Familie entstammt, kann es nur dadurch wettmachen, daß es keine hinterläßt.
Die Persönlichkeit hat ein Recht zu irren. Der Philister kann irrtümlich recht haben.
Sie, die Richter, richten, damit sie nicht gerichtet werden.
Wenn ich mir die Haare schneiden lasse, so bin ich besorgt, daß der Friseur mir eine Gedankenkette durchschneidet.
Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig.
Den Weltmarkt erobern: weil Händler so sprachen, mußten Krieger so handeln. Seitdem wird erobert, wenngleich nicht der Weltmarkt.
Die Furcht vor der Presse ist bei Schauspielern kein Laster, sondern eine Eigenschaft.
Die Prostitution des Leibes teilt mit dem Journalisten die Fähigkeit, nicht empfinden zu müssen, hat aber vor ihm die Fähigkeit voraus, empfinden zu können.
Eine, die mit Vitriol umgeht, ist auch imstande, zur Tinte zu greifen.
Die Nächstenliebe ist nicht die beste, aber immerhin die bequemste.
Ich kenne eine Bureaukratie, die weniger auf Eingebungen als auf Eingaben hält.
Der Ethiker muß immer von neuem zur Welt kommen. Der Künstler ein für allemal.
Wie närrisch gar, zu sagen, daß man, um sich von der Pest zu befreien, die Beule konfiszieren soll.
Tänzerinnen haben die Sexualität in den Beinen, Tenore im Kehlkopf. Darum täuschen sich die Frauen in den Tenoren und die Männer in den Tänzerinnen.
Die falschesten Argumente können einen richtigen Haß beweisen.
Menschsein ist irrig.
Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedankten als dich und darum immer neue!
Denn daß Krieg sein wird, erscheint denen am wenigsten unfaßbar, welchen die Parole „Jetzt ist Krieg“ jede Ehrlosigkeit ermöglicht und gedeckt hat, aber die Mahnung „Jetzt war Krieg!“ die wohlverdiente Ruhe der Überlebenden stört.
Stimmung der Wiener: das ewige Stimmen eines Orchesters.
Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.
Der Sport ist ein Sohn des Fortschritts, und er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei.
Eine umfassende Bildung ist eine gut dotierte Apotheke; aber es besteht keine Sicherheit, daß nicht für Schnupfen Zyankali gereicht wird.
Großes, Elementares muß die Kraft haben, von selber mit den Übelständen fertig zu werden.
Der Nationalismus, das ist die Liebe, die mich mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit den Beleidigern meiner Sitten, und mit den Schändern meiner Sprache.
Sie verstehen ihre eigene Sprache nicht, und so würden sie es auch nicht verstehen, wenn man ihnen verriete, daß das beste Deutsch aus lauter Fremdwörtern zusammengesetzt sein könnte, weil nämlich der Sprache nichts gleichgültiger sein kann als das „Material“, aus dem sie schafft.
Mit Frauen muß man, wenn sie lange fort waren, Feste des Nichtwiedererkennens feiern.
Das alte Wort gehört allen. Keiner kann es nehmen.
Eher gewöhnt sich ein Landpferd an ein Automobil, als ein Passant der Ringstraße an mich. Es sind schon viele Unglücksfälle durch Scheuwerden vorgekommen.
Es gibt Frauen, die wie der Blitz in die erotische Phantasie einschlagen, erbeben machen und die Luft des Denkens reinigen.
Nicht die Geliebte, die entfernt ist, sondern Entfernung ist die Geliebte.
Wozu das Aufsehen? Der Planet ist so geringfügig, daß ihn ein Haß umarmen kann.
Das Wesen eines Diplomaten setzt sich aus zwei Vorstellungen zusammen: Dejeuner und Courtoisie. Was darüber ist, das ist von Übel.
Kann ich dafür, daß die Halluzinationen und Visionen leben und Namen haben, und zuständig sind?
Ich bitte niemand um Feuer. Ich will es keinem verdanken. In Leben, Liebe und Literatur nicht. Und rauche doch.
Wider besseres Wissen die Wahrheit zu sagen, sollte für ehrlos gelten.
Ich liebe die Lebensbedingungen des Auslands nicht. Ich bin nur öfter hingegangen, um die deutsche Sprache nicht zu verlernen.
Der wahrhaft und in jedem Augenblick produktive Geist wird zur Lektüre nicht leicht anstellig sein. Er verhält sich zum Leser wie die Lokomotive zum Vergnügungsreisenden. Auch fragt man den Baum nicht, wie ihm die Landschaft gefällt.
Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die Nachspeise der Reue verdorben.
Daß Manneskraft schwindet, ist ein verdrießlicher Zustand. Wehe aber, wenn das Weib an ihm schöpferisch wird!
Die Unterichtsverwaltungen sanieren die Orthographie, und die grammatikalische Pest greift immer mehr um sich.
Die Technik: Automobil im wahren Sinn des Wortes. Ein Ding, das sich nicht nur ohne Pferd, sondern auch ohne den Menschen fortbewegt. Nachdem der Chauffeur den Wagen angekurbelt hatte, wurde er von ihm überfahren. Nun geht es so weiter.
Zu allen Dingen lasse man sich Zeit; nur nicht zu den ewigen.
Die lästigen Hausierer der Freiheit, die, wenn das Volk schon gar nichts kaufen will, mit dem Präservativ der Bildung herausrücken, mögen sich eine Zeitlang des Erfolges ihrer Zudringlichkeit freuen. Die Kultur hat es immer noch lieber mit den Hausknechten gehalten.
Zwei haben nicht geheiratet: sie leben seit damals in gegenseitiger Witwerschaft.
Sich keine Illusionen mehr machen: da beginnen sie erst.
Talent haben – Talent sein: das wird immer verwechselt.
Woher nehme ich nur all die Zeit, so viele Bücher nicht zu lesen?
Wenn man nicht weiß, wovon einer lebt, so ist das noch der günstigere Fall. Auch die Volkswirtschaft hat ein wenig Phantasie notwendig.