Christian Morgenstern Zitate
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In dem Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik steigen, hebt sich auch das Niveau der Kritik am anderen.
Vor einer Menschenmenge: ich sehe plötzlich die Gedanken dieses Volkes wie eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll Tränen und Blitzen.
Der Tag ist abgegriffen, laßt uns in den Morgen zurücksteigen.
Man kann Nietzsche aus zehn Zeilen erkennen lernen und aus zehn Büchern – verkennen.
Überall dem Selbstverständlichen zum Wort verhelfen – das ist ein großes Geheimnis.
Ich kann ungeklärte Verhältnisse einfach nicht ertragen. Warum können die Menschen nicht offen gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!
Wer sich selbst treu bleiben will, kann nicht immer anderen treu bleiben.
Was wir aus der Geschichte des Geistes lernen können, das ist, meine ich, vor allem eine immer tiefere Bescheidenheit, uns zu äußern.
Ich habe zuweilen einen abgründigen Haß auf die Zahl. Sie ist die absurdeste Fälschung der „Wirklichkeit“, die dem Menschen wohl je gelungen ist, und doch baut sich auf ihr „unsere ganze heutige Welt“ auf.
Jeder Mensch ist ein neuer Versuch der Natur, über sich ins Reine zu kommen.
Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er; aber nicht nur das: Desto mehr lassen ihn selbst seine treuesten Freunde allein – aus Zartgefühl, Schamgefühl, Liebe, Ehrfurcht, Verlegenheit, Hochachtung, Scheu, kurz, aus den allerbesten Gründen und mit dem unanfechtbarsten Takt des Herzens.
Es gibt kaum eine größere Gefahr für einen Menschen wie mich, als Nietzsche zu lesen. Es ist wie ein Wühlen im Schmerz meines eigenen Unwerts.
Wir haben heute Ehrfurcht vor den Bewohnern eines Wassertropfens, aber vor dem Menschen haben wir immer noch keine Ehrfurcht.
Wahrheit ist eine Sache des Temperamentes, darum kann man Wahrheit nicht lehren, nur zeugen.
Oh, Glück auszugießen über die Welt! Augen leuchten, Herzen erheben machen!
Die Menschheit, ein Taster Gottes nach sich selbst.
Alles Vorwärts der Menschheit geht auf Kosten ihres Einwärts.
Skeptischer Schnörkel Auf Erfolg Reimt sich Volk; Auf Volk Reimt sich – Nichts.
Einer der seltsamsten Zustände ist das dunkle und unvollkommene Bewußtsein, das wir von der Form und dem Ausdruck unseres eigenen Gesichts haben.
Und immer wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der geschlechtlichen Liebe unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht hat, von der wir durchaus wieder heruntersteigen müssen.
Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache ist in unsere termini zerklüftete Wirklichkeit.
So spricht die edle Rasse: Ich tue dies und das, weil ich es mir schuldig bin.
Besuche machen immer Freude – wenn nicht beim Kommen, so doch beim Gehen.
Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir schlecht gemacht haben, aber nur noch in mir, in mir selbst. Alles andere ist Sentimentalität und Pfuscherei.
Der Pilz ist der Parvenu der Pflanzen.
Es gibt keine Seele, die nicht ihr Wattenmeer hätte, in dem zu Zeiten der Ebbe jedermann spazieren gehen kann.
Nebel, stiller Nebel über Meer und Land. Totenstill die Watten, totenstill der Strand. Trauer, leise Trauer deckt die Erde zu. Seele, liebe Seele, schweig und träum auch du.
Entweder man ist Künstler oder Philosoph. Der Philosoph achtet die Kunst, ja liebt sie, – aber er komplimentiert sie hinaus, wenn er mit seinem Ernst allein sein will.
Ein jeder soll den Weg des anderen achten, wo zwei sich redlich zu vollenden trachten.
In einem großen Geiste bricht jahrhundertelanges, im Verborgenen schaffendes Keimen der Naturkräfte zur strahlenden Blüte auf.
Ich definiere den Humor als die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen aus.
O tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt.
Jede Redensart ist die Fratze eigener Gedanken, ein „Mitesser“ im Zellengewebe des Denkers.
Wer Dinge verspottet, an die ein guter Geschmack längst nicht mehr rührt, wird selbst Gegenstand des Spottes, ja der Verachtung.
Der Mensch ist immer ein Phänomen. Er sieht nicht schön aus: Irgendwie heißt sein Name und Ruhlos sein Schuh, sein Rock heißt Elend, seine Zunge Eitelkeit, sein Eingeweide Wollust, sein Herz Flamme, sein Auge Sonnenheimweh, sein Wanderstab Nirgendsheim und seine bittere Nahrung Er selbst.
Wenn ich so die kleinen Dampfer die riesigen Kähne vorüber schleppen sehe, muss ich immer an den Dichter und das Publikum denken.
Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine Meinung ausspricht.
Der beste Beweis für die Gotteskindschaft Christi ist der, daß es Zeiten gab, wo jeder Teufel vor einem Kreuz die Flucht ergriff.
Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken.
Für jeden Menschen, sagt Goethe, kommt der Zeitpunkt, von dem an er wieder „ruiniert“ werden muß. So auch: für jede Kulturperiode.
Suche allem nach Möglichkeit eine Folge zu geben.
In Christus ist zum ersten Mal auf der Erde Gott selbst sich zum Bewußtsein gekommen. In Christus erkannte Gott als Mensch zum ersten Mal sich selbst. Seitdem sind fast zweitausend Jahre vergangen. Aber freilich: „Tausend Jahre sind vor Ihm wie ein Tag.“
Eine schwache Persönlichkeit wird manchmal eine stärkere Persönlichkeit werden können als eine starke Persönlichkeit.
Es ist etwas Herrliches, wenn in das Händeklatschen einer Menge jenes Elementare kommt, das ich das Mark des Beifalls nennen möchte.
Der gesunde Mensch ist schön und sein Zustandekommen erstrebenswert. Aber es muß ein bißchen irgendwelcher Krankheit in ihn kommen, daß er auch geistig schön werde.
Man sollte von Zeit zu Zeit von sich zurücktreten wie ein Maler von seinem Bilde.
Jede Krankheit hat ihren besonderen Sinn, denn jede Krankheit ist eine Reinigung; man muß nur herausbekommen, wovon. – Es gibt darüber sichere Aufschlüsse; aber die Menschen ziehen es vor, über hunderte und tausende fremder Angelegenheiten zu lesen und zu denken, statt über ihre eigenen.
Ich liebe dich, du Seele, die da irrt im Thal des Lebens nach dem rechten Glücke.
Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.
Wir Deutschen leiden alle an der Hypochondrie der „Verpflichtungen“. Sie macht unsere Stärke und unsere Schwäche aus.