Karl Kraus Zitate
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Die Verluste an Sinnlichkeit und Phantasie, die Ausfallserscheinungen der Menschheit, sind kinodramatisch.
Wenn einer sich wie ein Vieh benommen hat, sagt er: Man ist doch auch nur ein Mensch! Wenn er aber wie ein Vieh behandelt wird, sagte er: Man ist doch auch ein Mensch!
Der Spiritismus ist die Metaphysik der Tischgesellschaft.
Was doch die soziale Sitte vermag! Nur ein Spinnweb liegt über dem Vulkan, aber er hält sich zurück.
Es gibt Weiber, die so stolz sind, daß sie sich nicht einmal durch Verachtung zu einem Mann hingezogen fühlen.
Weil beim Mann auf Genuß Verdruß folgen muß, muß folgen, daß beim Weib auf Treue Reue folgt.
Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!
Christlicher Umlaut Seit die Lust aus der Welt entschwand und die Last ihr beschieden, Lebt sie am Tag mit der Last, flieht sie des Nachts zu der List.
Die „Männer der Wissenschaft“! Man sagt ihr viele nach, aber die meisten mit Unrecht.
Am Anfang war das Rezessionsexemplar, und einer bekam es vom Verleger zugeschickt. Dann schrieb er eine Rezension. Dann schrieb er ein Buch, welches der Verleger annahm und als Rezensionsexemplar weitergab. So ist die moderne Literatur entstanden.
Es gibt Wahrheiten, durch deren Entdeckung man beweisen kann, daß man keinen Geist hat.
Es gibt Menschen, die es zeitlebens einem Bettler nachtragen, daß sie ihm nichts gegeben haben.
Als stärkster Erschwerungsgrund galt mir immer, daß einer nichts dafür gekonnt hat.
Es gibt keinen Ort, der eine größere Öffentlichkeit bedeutet, als ein Lift, in dem man angesprochen wird.
Die Welt ist ein Gefängnis, in dem Einzelhaft vorzuziehen ist.
Vorschläge, um mich dieser Stadt wieder zu gewinnen: Änderung des Dialekts und Verbot der Fortpflanzung.
Der Wert der Bildung offenbart sich am deutlichsten, wenn die Gebildeten zu einem Problem, das außerhalb ihrer Bildungsdomäne liegt, das Wort ergreifen.
Wer da gebietet, dass Xanthippe begehrenswerter sei als Alkibiades, ist ein Schwein, das immer nur an den Geschlechtsunterschied denkt.
Über Zeit und Raum wird so geschrieben, als ob es Dinge wären, die im praktischen Leben noch keine Anwendung gefunden haben.
Der Autor, der fremde Kostüme ausklopft, kommt dem stofflichen Interesse von der denkbar bequemsten Seite bei. Der geistige Leser hat deshalb das denkbar stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben.
Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müßte mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen.
In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden.
An der schönen Herrin sprangen ihre Hunde empor wie seine Gedanken und legten sich ihr zu Füßen wie seine Wünsche.
Vielleicht ginge es besser, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen; wenn die Menschen an der Leine und die Hunde an der Religion geführt würden. Die Hundswut könnte in gleichem Maße abnehmen wie die Politik.
Eher verzeiht dir einer die Gemeinheit, die er an dir begangen, als die Wohltat, die er von dir empfangen hat.
Frage deinen Nächsten nur über Dinge, die du besser weißt. Dann könnte sein Rat wertvoll sein.
Der „Verführer“, der sich rühmt, Frauen in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen: Der Fremde, der auf dem Bahnhof ankommt und sich erbötig macht, dem Fremdenführer die Schönheiten der Stadt zu zeigen.
Der Dilettantismus ist ebenso untüchtig wie die Kunst. Wenn er sich nicht mit der Geldgier verbündet hätte, würde das Publikum auch von ihm nichts wissen.
Der Klerikalismus ist das Bekenntnis, daß der andere nicht religiös ist.
Dem Kampf gegen das Welsche scheint eine heimliche Sympathie für das Kauderwelsche zugrunde zu liegen.
Es gibt ein Zeitgefühl, das sich nicht betrügen läßt. Man kann auf Robinsons Insel gemütlicher leben als in Berlin; aber nur, solange es Berlin nicht gibt.
Der Mann ist der Anlaß der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.
Der Witz umarmt die Wirklichkeit, und der Wahnsinn springt auf die Welt.
Seitdem sich die Menschheit einen Propeller vorbindet, geht es zurück.
Man glaubt gar nicht, wie viel Häßlichkeit die angestrengte Beschäftigung mit der Schönheit erzeugt!
Ich kenne einen Humorlosen, der immer aufgeregt ist. Er kocht ohne Wasser; das Email stinkt schon.
An vieles, was ich erst erlebe, kann ich mich schon erinnern.
Nichts hat sich geändert, höchstens, daß man es nicht sagen darf.
Um einen Irrtum gut zu machen, genügt es nicht, ihn mit einer Wahrheit zu vertauschen. Sonst lügt man.
Die bloße Mahnung an die Richter, nach bestem Wissen und Gewissen zu urteilen, genügt nicht. Es müßten auch Vorschriften erlassen werden, wie klein das Wissen und wie groß das Gewissen sein darf.
Keine Gedanken haben und unfähig sein, sie auszudrücken: das ist Journalismus.
Der Maler hat es mit dem Anstreicher gemeinsam, daß er sich die Hände schmutzig macht. Eben dies unterscheidet den Schriftsteller vom Journalisten.
Die Effektschauspieler sind von den Defektschauspielern verdrängt worden.
Man muß jedesmal so schreiben, als ob man zum ersten und zum letzten Male schriebe. So viel sagen, als obs’s ein Abschied wäre, und so gut, als bestände man ein Debüt.
Die Aufnahmsfähigkeit des produktiven Menschen ist gering. Der lesende Dichter macht sich verdächtig.
Nichts wird dem deutschen Humoristen zum größeren Erlebnis als die Vorgänge der Verdauung.
Ein Snob ist unverläßlich. Das Werk, das er lobt, könnte gut sein.
Kriege und Geschäftsbücher werden mit Gott geführt.
Bevor man das Leben über sich ergehen läßt, sollte man sich narkotisieren lassen.
Es gibt eine Lebensart, die so tüchtig ist, daß sie jede Bahnstation in einen Knotenpunkt verwandelt.